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Benedict Wells – Vom Ende der Einsamkeit. Lesen!

Benedict Wells ‚Vom Ende der der Einsamkeit

„Vielleicht schreibst du nicht auf Papier, doch in deinem Kopf tust du es, sagte sie mit ihrer leisen Stimme und berührte mich am Arm. Das hast du schon immer getan. Du bist ein Erinnerer und Bewahrer, und du weißt es.“ (Alva über Jules)

Gerade habe ich es zur Seite gelegt, ausgelesen, mit Tränen in den Augen, denn auch wenn es versöhnlich, positiv aufs Leben schauend, zukunftsgerichtet endet, es ist in seiner Grundstimmung ein trauriges Buch. Aber doch wieder nicht so traurig, dass es weh tut. Ohne es falsch klingen lassen zu wollen, irgendwie schön traurig. Romanhaft traurig. Mit lebendiger Traurigkeit, die man mitfühlt. Tragik, die man nachvollziehen kann, Gefühle, die wir mitleben.

Bücher, die mich berühren haben meistens einen (oder auch mehrere) Sätze, die mir besonders ins Auge fallen. So ging es mir mit oben zitiertem Satz aus Benedict Wells neuem Roman. Es hat mich daran erinnert, dass tatsächlich immer ich diejenige bin, die in unserer Familie von Szenen aus der Kindheit erzählt, von Ereignissen, die mich – und wie ich lange dachte, auch alle anderen Beteiligten – geprägt haben.

Bei jedem Zusammentreffen mit meinen Eltern, Bruder, Verwandtschaft fallen mir kleine Episoden aus der Kindheit und Jugend ein. Es fasziniert mich immer aufs Neue, dass sich sonst niemand erinnern kann, mir manchmal sogar eine ausgereifte Phantasie nachgesagt wird. Ich aber bin mir sicher, alles genau so erlebt zu haben. Vermutlich soll das so sein, in jeder Familie sollte es einen Erinnerer geben, eine Person, die all die kleinen und großen Begebenheiten, die Emotionen, den Schmerz, die Freude bewahrt, das Gedächtnis der Familie ist.

Ein wirklich schöner Gedanke, auf den ich durch ‚Vom Ende der Einsamkeit‘ gestoßen bin.

Erschienen im März 2016 im Diogenes Verlag
ISBN 978-3-257-06958-7
geb. Ausgabe ca. 22.-€

Benedict Wells Vom Ende der Einsamkeit

 

William Boyd ‚Die Fotografin‘ – Sweet Caress

William Boyd „Mein siebzig Jahre währendes Leben war erfüllt, unendlich traurig, faszinierend, komisch, absurd und beängstigend – manchmal jedenfalls -, schwierig, schmerzlich und voller Glück. Anders gesagt, kompliziert.“

Mit diesen Worten beschreibt Amory Clay – die Fotografin – ihr bewegtes Leben. Die Worte, die Autor William Boyd seiner Protagonistin in die Feder legt, könnte die Zusammenfassung eines jeden Lebens sein.

Das macht das Buch unter anderem für mich so lesenswert, es ist glaubhaft, und dennoch einfach eine Geschichte. William Boyd macht das geschickt, er wählt die Form der Autobiografie einer fiktiven Erzählerin. So kann er das historische Geschehen des 20. Jahrhunderts, Begebenheiten, Personen, die Gesellschaft an sich, den Krieg oder die Stellung der Frau verweben mit einem persönlichen Einblick in das bewegte Leben der Fotografin Amory Clay.

Unterstützt wird die Glaubhaftigkeit der Erzählung durch immer wieder im Text eingebundene Schwarzweiß-Fotografien, die in der William Boyd Qualität (wohl bewusst oder fehlt mir hier der Kunstsinn?) so schlecht sind, dass man oft gar nicht erkennen kann, was das Foto denn nun darstellen soll. Tatsächlich spielt die Qualität der Fotos ansonsten gar keine Rolle, sie dienen, so denke ich zumindest, zur Aufrechterhaltung der autobiografischen Fiktion.

Ich für meinen Teil war gefesselt vom Leben der Amory Clay, glücklich endlich mal wieder – nach langer Leseabstinenz – in den Sog einer schön erzählten Geschichte hineingezogen worden zu sein, mich auf den nächsten Moment freuend, an dem ich weiterlesen konnte. Einzig die eigenartige Distanziertheit zur Erzählerin, das Fehlen von übertragenen Emotionen auf den Leser- trotz schmerzhafter Erlebnisse kommt keine Trauer auf, man wird nicht zu Tränen gerührt, man fühlt die Freude nicht – fand ich persönlich als schade.

Dennoch, eine Leseempfehlung für alle, denen ein Buch nicht umfangreich genug sein kann (die 500 Seiten werden überschritten), die im Vorbeilesen ein paar Einblicke in gesellschaftlich-historisches Zeitgeschehen mitnehmen möchten und einfach gerne abtauchen in die Welt eines guten Erzählers.

William Boyd ‚Die Fotografin‘ (Original: ‚Sweet Caress‘)
Berlin Verlag gebundene Ausgabe 24.-€
ISBN 9783827012876

Donna Tartt ‚Der Distelfink‘ – eine Hörempfehlung

DistelfinkWie soll man etwas Neues zu lesen anfangen nach diesen 33 Stunden, eingetaucht in die Welt des Theo Decker, gefangen genommen von der charismatischen Stimme eines Matthias Koeberlin, der es schafft die Figuren, die Handlung, die Orte so lebendig werden zu lassen, dass jede Unterbrechung wie ein Aufwachen aus einem intensiven Traum erscheint.

Tatsächlich habe ich mir beim Lesen eines Buches noch nie darüber Gedanken gemacht, wie viele Stunden ich wohl mit der Geschichte verbracht habe. Bei einem Hörbuch mit Zeitangabe ist das anders, da stellte sich mir ständig die Frage „schaffe ich wohl noch ein paar Kapitel?“.

Überhaupt, Hörbuch? Nein, bisher hatte sich mir die Welt der Hörbücher nicht eröffnet. Es gab keine Notwendigkeit, wenig Gelegenheit. Literatur wird selber lesend verschlungen.

An Donna Tartts ‚Goldfinch‘ (im Original) bin ich kläglich gescheitert. DistelfinkDieses Buch war von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Lange, scheinbar endlose Passagen von Beschreibungen, die für den Spannungsbogen der Geschichte nicht zwingend notwendig erschienen, sind – das gebe ich offen zu – einfach nicht mein Ding.

Ich fand das schade, hatte ich doch gute Besprechungen gelesen und war neugierig auf diese Geschichte, ich wollte es unbedingt lesen. Und dann, zu meiner Freude, habe ich gleich von zwei Seiten die Hörbuch-Empfehlung der deutschen Ausgabe bekommen, gelesen von Matthias Koeberlin, ein Glücksfall.

Was für ein Erlebnis. Die (mich) beim Lesen ermüdenden Beschreibungen werden zur Ouvertüre des Handlungsstrangs, die Szenarien erhalten ihre Farbe, die Spannung wird dem Höhepunkt entgegengetrieben. Zugegeben, zwischenzeitlich wollte ich ihn schütteln, diesen naiven Theo, der alles irgendwie mit sich geschehen lässt, nicht eingreift, sich nicht widersetzt und immer tiefer in seine DistelfinkFantasie-Lügengeschichten verstrickt. Man hat ihn trotzdem, oder gerade deswegen, gern. Vielleicht auch, weil ihm andere, allen voran sein Freund Boris, als Mit- (Gegen?-) spieler zur Seite gestellt werden. Vermutlich muss seine Figur genau so sein, wie sie ist, um seinem Lebenslauf die auf den Höhepunkt zustrebende Dramatik zu verleihen.

Waren die ersten zwei Drittel Distelfinkdes Buches unterhaltsam, die konsequente Einleitung, das Kennenlernen der Menschen , so zielt alles auf das letzte Drittel, die Steigerung hin zum fulminanten, dem alle Register ziehenden Finale.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn erwähnen soll, muss, den Distelfink, dieses meisterhafte Gemälde, das dem Buch seinen Namen gibt. Hiermit getan, alles weitere… hört doch selbst, es lohnt sich!

Eine uneingeschränkte Hör-Empfehlung!

Donna Tartt ‚Der Distelfink‘, ungekürzte Lesung, gelesen von Matthias Koeberlin, Hörverlag ISBN 978-3-8445-1379-0

ps: wen es wundert, warum ich Fotos von New York und Las Vegas zur Auflockerung eingestreut habe … klar hat es etwas, um genau zu sein, ziemlich viel mit der Geschichte zu tun 🙂