Ich wollte etwas übers Schreiben schreiben. Über Handgeschriebenes. Dabei bin ich auf einen Text gestoßen. Einen Text, den ich vor neun Jahren geschrieben habe. Ich hatte ihn vergessen, kann mich noch nicht mal erinnern, unter welchen Umständen er entstanden ist. Und dennoch – oder gerade deswegen – seltsam berührend. Ich habe ihn abgetippt, Wort für Wort, nichts verändert. Heute nun also nichts übers Schreiben, sondern eine Geschichte, etwas Geschriebenes.
Ein Traum? Eine Geschichte!
Sie erschrak. Das Herumlaufen in einem Haus mit leeren Räumen war nicht gerade erbaulich. Hinter jeder Tür wieder nur Leere. Und jetzt das. Sie sieht eine Bewegung, eine andere Person? Sie geht langsam näher, bevor sie erkennt, dass sie sich selber sieht, in einem Spiegel. Wie immer, wenn sie in einen Spiegel blickt ist sie überrascht – das ist sie also, so sehe ich aus, so bewege ich mich, so sehen mich andere.
Sie geht näher an den Spiegel heran, das Licht im leeren Zimmer ist schummrig. Zufällig berührt sie den Spiegel und erkennt, dass sich dahinter eine Tür verbirgt. Wie von Geisterhand öffnet sie sich.
Nun, sie hat inzwischen in diesem Haus hinter so viele Türen geblickt, warum nicht auch hinter diese – obwohl das Gefühl hier ein anderes ist. Unsicherheit, Angst, aber auch Neugier und ein ungewohntes Kribbeln, zu sehen, was sie dort erwartet. Schließlich ist diese Tür anders als alle vorherigen, die nur in leere Räume führten. Sie spürt, dass hier kein leeres Zimmer auf sie wartet, es wird anders sein.
Die Neugier siegt über die Stimmen in ihrem Kopf, die sagen „bleib, wo du bist, hier sind keine Gefahren, hier erwartet dich nichts Neues, du kennst alles“.
Sie öffnet die Tür ganz und sieht – erstmal NICHTS. Es ist dunkel. Sie wartet eine Weile, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben und erkennt dann eine steile Treppe, die nach unten führt. Es scheint unten am Fuß der Treppe einen Gang zu geben, sie kann einen leichten Lichtschein erkennen. Sie steigt die Stufen hinab und findet sich in einem weitläufigen Gang wieder. Rechts und links liegen weitere Türen. Von dort kam auch der Lichtschein, unter manchen Türen kann sie Licht hervorblinzeln sehen, unter anderen wiederum ist es dunkel.
Da sie erst einmal genug hat von der Dunkelheit öffnet sie eine der Türen, hinter denen Licht zu erkennen ist.
Natürlich ist sie nun erstmal geblendet und kann nichts erkennen. Aber sie kann etwas hören. Leise noch, aber es ist da. Nach der Stille im Haus ist das leise Geräusch eine Wohltat für ihre Seele. Langsam kann sie Umrisse erkennen, eine Insel mit Palmen, weißer Sandstrand und blaues Meer, das sacht an den Strand plätschert. Eine kleine Hütte, ein Boot, eine Hängematte. Sie erkennt immer mehr Details. Es sieht aus wie ein ruhiger, friedlicher Ort. Sie beschließt, sich das Haus näher anzusehen und tritt auf den warmen Sand, der ihr durch die Zehen fließt.
Die Luft ist angenehm warm, nicht drückend heiß, als sie die im Schatten von Palmen stehende Hütte betritt. Innen befindet sich ein großer Wohnraum mit Kochstelle, pragmatisch, aber dennoch mit einer gewissen Gemütlichkeit ausgestattet. Es scheint auch Strom zu geben, man hört einen Generator im Hintergrund summen. Durch eine Tür, die aus einem Kettenvorhang besteht, gelangt sie in ein kleines Schlafzimmer. Im ganzen Haus liegen auf Ablageflächen wie Nachttisch, Beistelltisch, kleinen Regalen, auf dem Boden kleine Stapel mit Büchern – teilweise schon mehrfach gelesen, manche sehen neu aus.
Sie denkt „ja, hier könnte ich es aushalten, zumindest eine Weile“. Sie fragt sich, ob sie wohl die Möglichkeit hat gleich hierzubleiben oder ob diese Welt wie eine Seifenblase platzen wird, sobald sie sich niederlässt.
Aber wir haben sie von Anfang an so eingeschätzt, dass ihre Neugier sie wohl weitertreiben wird. Sie kann ja immer noch wieder hierher zurückkommen.
Sie geht zurück in den Gang mit den viele Türen.
Entscheidungen, sie muss eine treffen, würde sich nun aber doch am liebsten auf die Insel zurückziehen. Was treibt sie an? Warum fällt ihr sowohl das eine – zurückzugehen – als auch das andere – sich für den nächsten Raum zu entscheiden – so schwer?
Sie schließt kurz die Augen und sucht ihren Mittelpunkt, der Atem beruhigt sich.
Sie geht zielstrebig zum Ende des Ganges und öffnet die letzte Tür auf der linken Seite.
Wow, ist das nicht genau das, was sie sich immer in ihren Träumen vorgestellt hat?
Sie blickt auf eine atemberaubend schöne Landschaft. Ein See glitzert in der aufgehenden Morgensonne, er ist umringt von sanften bewaldeten Hügeln, in der Ferne sieht sie Berge aufragen. Etwas erhöht am Ufer auf einer Lichtung steht eine Blockhütte, die sich zum See hin öffnet. Draußen steht eine Bank, die langsam von den Sonnenstrahlen erreicht wird und sie dazu einlädt, ja geradezu magisch anzieht, sich darauf zu setzen um die aufsteigende Wärme der Sonne auf ihrem Gesicht zu spüren. Sie hört den Wind sacht durch die Bäume streichen und Vogelgezwitscher. Das Haus hinter ihr knarrt in den Holzbohlen, aus denen es gebaut ist. Eine Maus läuft an ihren Füßen vorbei und über dem See kreist ein Adler majestätisch.
Sie will gar nicht aufstehen, kann noch ewig so sitzen bleiben, einfach nur sitzen und schauen, genießen. Keine Bewegung mehr, keine neuen Türen, das ist der Platz, den sie immer wollte.
Sicher? Ganz sicher? Wollte sie den Platz schon immer oder hat sie diesen Flecken in ihren Träumen gewollt, die nicht zwingend etwas mit der Realität zu tun haben? Vielleicht will sie auch gar nicht, dass ihre Träume Realität werden, denn dann verliert sie ja ihre Träume. Vielleicht fehlt ja auch noch etwas ganz Entscheidendes, sie hat es auf ihrer Suche nach Ruhe und Einsamkeit nur noch nicht gemerkt.
Wir werden sie noch ein kleines Stück auf ihrem Weg begleiten und sehen, ob sie doch noch das findet was sie sucht oder glaubt zu suchen.
Sie gönnt sich noch ein paar Stunden Auszeit auf der Bank vor dem Blockhaus, das sie nicht betreten wird. Es ist, als ob sie wüsste, dass auch hier alles so sein wird, wie sie es sich wünscht. Sie hat Angst davor, dann ihren Weg nicht weitergehen zu wollen, sich in dieser Idylle für immer zurückzuziehen.
Also steht sie auf, wirft noch einen Blick zurück, noch einen und noch einen, dann öffnet sie die Tür zum Gang und geht sofort, ohne Überlegung, in die gegenüberliegende Tür hinein.
Welche Überraschung. Sie ist in einem kleinen, aber feinen Apartment. Eine typische amerikanische Wohn-Ess-Küchenzeilen-Einrichtung. Vor dem Küchenbuffet steht ein runder schöner Holztisch mit sechs Stühlen. Nach links geht eine Tür zum Schlafzimmer und eine weitere ins Bad. Mehr Räume gibt es nicht. Ein kleiner Kamin befindet sich rechts der Küchenzeile, mit einem einladenden Sofa davor, auf dem sich Decken und Kissen tummeln. Die hintere Wand gleicht einer Bibliothek mit einer wild zusammengewürfelten Auswahl an Büchern. Von draußen sind viele Geräusche zu hören, Straßenlärm, Autos hupen, Mülleimer werden geleert, Busse fahren vorbei, Kinder schreien, Menschen telefonieren.
Sie sieht zum Fenster hinaus und blickt direkt auf das Museum of Modern Art in Manhattan. Sie weiß gar nicht wo sie zuerst hinschauen soll, ihr bleibt fast das Herz stehen. Eine Wohnung mitten in Manhattan, das ist ja auch nicht so leicht zu fassen.
Sie macht das Fenster auf. Der Lärm dringt jetzt ungehindert ins Zimmer. Ebenso die schwüle unerträgliche Hitze und eine Mischung aus Abgasen, Müllgestank und ranzigem Fett. Sie steht trotz allem nur da und staunt und genießt. Sie kann nicht sagen, dass es sie stört, es ist phantastisch.
Sie geht hinaus auf die Straße, IHRE Stadt, sie fühlt sie durch ihre Adern pulsieren. Menschenmassen, Lärm, Schnellimbisse, Hektik, Stehcafes, der Central Park, Theater, stundenlanges Schmökern in Buchhandlungen, Brooklyn, der Blick auf die Skyline, sie weiß gar nicht wo sie anfangen soll. Wie lange läuft sie nun schon durch die Straßen? Sie weiß es nicht, die Füße tun ihr weh, aber sie kann gar nicht innehalten.
Was soll sie tun? Drei Türen, drei Räume die unterschiedlicher nicht sein können, und dennoch, sie ist nicht glücklich, wenn sie ehrlich ist. Nichts ist vollkommen, vielleicht sind es die Träume, dort darf Vollkommenheit herrschen.
Sie geht zurück in ihr Apartment, dieses Mal fällt der Abschied nicht schwer. Sie weiß jetzt was fehlt. Im Trubel der New Yorker Innenstadt hat sie es entdeckt. In der Anonymität der Menschenmassen.
Es sind die Menschen, die fehlen. Sie weiß genau wo sie suchen muss, welche Tür sie öffnen muss. Sie geht zielstrebig zum Anfang des Ganges, gleich zur ersten Tür neben der Kellertreppe.
Sie öffnet sie und steht vor einer Treppe, die nach oben führt. Sie rennt fast, so sehr ist sie gespannt was oder wer sie oben erwartet.
Alle sind da, jeder einzelne. Ihre Eltern, von denen sie lange nicht sicher war, ob sie sie sehen will, ihr Bruder, ihr Freund, die wenigen aber guten Freunde, die noch da sind, ein paar der alten Freunde, die mal wieder nach ihr sehen wollten, neue Freunde. Jeder will mit ihr reden und hören, wie es ihr geht. Alle reden und lachen durcheinander. Neue Bekanntschaften untereinander werden geknüpft.
Irgendwann zieht sie sich zurück in eine Ecke und wird zur Beobachterin. Was sie sieht macht sie glücklich. Was hat sie von allen Träumen, wenn sie nicht gefüllt sind mit den Menschen, die in ihrem Leben eine Rolle spielen, sie begleiten, ihr geholfen haben oder denen sie helfen konnte, zum Spaß haben, zum Lachen, zum traurig sein, zum wütend sein, zum Lieben.
Sie ist zuhause!